Was ist Bewusstsein? Husserls Lösung eines Menschheitsrätsels

Es ist der eine, einzige Bewusstseinsfluss, in dem sich die immanente zeitliche Einheit des Tones konstituiert und zugleich die Einheit des Bewusstseinsflusses selbst.

—Edmund Husserl

Die Frage nach dem Sein des Bewusstseins und seiner Beziehung zum Gehirn ist heute so aktuell wie zu Descartes’ Zeiten.1 Was ist Bewusstsein für eine Entität? Und inwieweit wird es von unseren Gehirnen hervorgebracht? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Husserl das Geheimnis des Bewusstseins (und damit der Intentionalität) gelüftet hat, indem er es als Phänomen ernst genommen und dessen Struktur und Genese mit großer Akribie phänomenologisch beschrieben hat. Ein besonderes Augenmerk wollen wir dabei auf die Frage richten, inwiefern Bewusstsein eine Anschauungsform im Sinne Kants ist.

1. Kant

1.1. Zeit als Anschauungsform2

Während in der Psychologie, der Hirnforschung und der Analytischen Philosophie des Geistes immer noch darüber gerätselt wird, was Bewusstsein eigentlich ist und man dabei oft genug seine Entstehungsbedingungen mit seinem Eigensein verwechselt, hat Husserl bereits vor gut 100 Jahren dieses Rätsel weitgehend und auf überzeugende Weise gelöst: Bewusstsein ist die lebendige Gegenwart seiner gegenwärtigen Inhalte. Das heißt: Die Tatsache, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist — seine intentionale Verfasstheit —, wird als ein temporales Verhältnis durchsichtig. Sein, Zeit und Bewusstsein rücken hierdurch in einen unauflöslichen Zusammenhang. Dem Phänomen nach ist ja Bewusstsein keine Entität, die man wie anderes Seiendes in der Welt vorfindet — schon gar nicht in unseren Köpfen, sondern Bewusstsein ist (als wahrnehmendes) faktisch Bewusstsein von Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen, Kulturgegenständen in der Welt. Bewusstsein gibt es daher nur als Korrelat oder (wie sich zeigen wird): als (Zeit-) Form von Welt.3

Schon Kant betonte, dass der innere Sinn, dessen Form die Zeit ist, vornehmlich durch Inhalte der Außenwelt besetzt wird,4 wenngleich er natürlich auch der ›Erscheinungsort‹ aller ›mentalen‹ Phänomene ist. Der innere Sinn ist daher in Wahrheit gar nicht nach innen gerichtet (zumal ja ›innen‹ und ›außen‹ selbst räumliche Bestimmungen sind und unser Inneres durch unseren Leib erfüllt wird), sondern er ist der Ort der Anwesenheit aller wirklichen Phänomene. Der innere Sinn ist daher nichts anderes als unser sinnlich-holistisches Bewusstsein, in dem Geist und Körper, Denken und (phänomenales) Sein als temporale Phänomene für uns erscheinen. In der Zeit »allein«, so Kant, »ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.« (KrV B 46) Die Zeit wird somit durch Kant als die grundlegende Anschauungs- und Bewusstseinsform erkannt: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum innern Zustande gehören: dieser innere Zustand aber, unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit gehöret, so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen. Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume, und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Prinzip des inneren Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit.« (KrV, B 50 f.) Die Zeit ist als Anschauungsform (so wie der Raum) beides: sowohl eine fundamentale Gegenstandsstruktur (bzw. -ordnung) als auch die Art und Weise, wie die Inhalte des Bewusstseins eben bewusst sind. Die Zeit ist deshalb zugleich und in Identität Bewusstseins- und Gegenstandsform. Bewusstsein ist als Zeitform der Erscheinungen von diesen untrennbar. Die Zeit ist daher — wie Kant betont — einerseits empirisch real und andererseits transzendental ideal.5

Anschauendes Bewusstsein wird folglich schon von Kant als Zeit und diese als Anschauungsform erkannt. Insofern alle Erscheinungen — auch die räumlichen — in der Anschauungsform der Zeit gegeben sind, ist die Zeit fundamentaler als der Raum. Ohne Zeitbewusstsein gäbe es auch kein Raumbewusstsein, denn in der Zeit zu sein, ist gleichbedeutend mit: im Bewusstsein, also bewusst zu sein.

1.2. Der Ursprung der Anschauungsformen

Für Kant sind jedoch die Anschauungsformen keineswegs angeborene Bestände bzw. hypostasierte Strukturen, die es auch ohne Inhalte gibt (auch wenn dies in der Kritik der reinen Vernunft suggeriert wird), sondern Ergebnis eines permanenten Konstitutionsprozesses, den Kant nicht näher analysiert hat. In De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis heißt es hierzu: »In der Vorstellung des Sinnes aber findet sich erstlich etwas, was man den Stoff nennen könnte, nämlich die Empfindung, außerdem aber etwas, was die Form heißen kann, nämlich die Gestalt des Sensiblen, die hervortritt, sofern das Mannigfaltige, das die Sinne affiziert, durch eine Art von natürlichem Gesetz des Gemüts einander beigeordnet wird.« (§ 4) Und im § 14 betont Kant, »dass der Begriff der Zeit lediglich auf einem inneren Gesetz der Erkenntniskraft beruht, nicht aber eine Art angeborener Anschauung ist, und dass folglich nur mit Hilfe der Sinne diese Handlung des Gemüts, das sein Empfundenes einander beiordnet, hervorgerufen werden kann.«^[6] Die Anschauungsformen werden also bei Gelegenheit sinnlicher Affektion durch das Beiordnen der Empfindungen allererst generiert. Der ›kritische‹ Kant hat indessen diese Theorie einer ursprünglichen Erwerbung (acquisitio originaria) von Raum und Zeit keineswegs aufgegeben,6 sondern er bestätigt sie in der Streitschrift gegen Eberhard Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll: »Der Grund der Möglichkeit der sinnlichen Anschauung […] ist die bloße eigentümliche Rezeptivität des Gemüts, wenn es von etwas (in der Empfindung) affiziert wird, seiner subjektiven Beschaffenheit gemäß eine Vorstellung zu bekommen. Dieser erste formale Grund z. B. der Möglichkeit einer Raumesanschauung ist allein angeboren, nicht die Raumvorstellung selbst.« (AA VIII, 222 f.)

Versucht man Kants Wahrnehmungstheorie im Hinblick auf seine Erwerbstheorie der Anschauungsformen zu reformulieren, so ergibt sich folgendes Modell:

Unsere Sinnlichkeit (Rezeptivität) wird durch ein unbekanntes Ding an sich (oder im Falle der Selbstaffektion durch uns selbst) affiziert und bringt hierdurch Empfindungen (die ja ebenfalls subjektiv sind) hervor,7 die sie nach eingeborenen Gesetzen neben- und nacheinander ordnet. Durch diesen Ordnungsprozess werden zugleich die Anschauungsformen und das in diesen Formen Angeschaute, also die räumlichen und zeitlichen Inhalte, konstituiert. Anschauung, sinnliches Bewusstsein von etwas, hat also seinen konstitutiven Ursprung im Ordnen von Empfindungen. Bewusstsein und Bewusstseiendes (physische und mentale Phänomene) sind somit schon nach Kant gleichursprünglich.8

2. Husserls Theorie der (Selbst-)Konstitution des Bewusstseins

Auch Husserl betont die fundamentale Rolle der Zeit und des Zeitbewusstseins, aber anders als Kant widmet er diesem Phänomen differenzierte Analysen. Mit Kant verbindet ihn die Auffassung, dass die Zeit zugleich Anschauungs- und Gegenstandsform und das Zeitbewusstsein ein präreflexives, nichtbegriffliches Wahrnehmungsbewusstsein (besser: synoptische Anschauung) ist. Das innere Zeitbewusstsein bzw. die lebendige Gegenwart ist auch für Husserl der Ort der Gegebenheit aller Gegebenheiten. Alle intentionalen Erlebnisse, die wir erleben (das Wahrnehmen, Einbilden, Denken von etwas), sind ja eben dadurch charakterisiert, dass sie selbst bewusst sind. Wobei hier mit ›bewusst‹ nur gemeint ist, dass sie präreflexiv ›erlebt‹ werden. Sie sind uns präsent in der Anschauungsform der Zeit. Ihr Bewusstsein ist folglich ihre Zeitform. »Jedes ›Erlebnis‹ im prägnanten Sinn«, so Husserl, »ist innerlich wahrgenommen. […] Dieses gegenwärtige, jetzige, dauernde Erlebnis ist schon, wie wir durch Blickänderung finden können, eine ›Einheit des inneren Bewusstseins‹, des Zeitbewusstseins, und das ist eben ein Wahrnehmungsbewusstsein. ›Wahrnehmen‹, das ist hier nichts anderes als das zeitkonstituierende Bewusstsein mit seinen Phasen der fließenden Retentionen und Protentionen. Hinter diesem Wahrnehmen steht nicht wieder ein Wahrnehmen, als ob dieser Fluss selbst wieder eine Einheit in einem Flusse wäre.« (Hua X, 127) Das Zweite, was Husserl folglich mit Kant verbindet, ist die Auffassung, dass es das Zeitbewusstsein nicht einfach gibt, sondern dass es selbst konstituiert wird, und zwar permanent. Auch nach Husserl ist Bewusstsein und Bewusstseiendes gleichursprünglich: Ihr Ursprung ist das Retinieren (und darin fundiert: das Protinieren) von Urempfindungen. Im Unterschied zu Kant versucht Husserl jedoch die von Kant nur behauptete Beiordnung der Empfindungen phänomenologisch zu beschreiben und damit auf den Begriff zu bringen. Im Prinzip jedoch führt dies zu keiner Revision Kants, sondern es bedeutet die Erfüllung eines Desiderats.

Wie entsteht also Bewusstsein? Wir sagten gerade: durch das Retinieren von Urempfindungen. Doch was ist hierunter zu verstehen? Machen wir uns dies an Husserls Paradebeispiel, dem Hören eines Tones, klar. Nehmen wir an, der Ton (z. B. ein schriller Pfiff) kommt unerwartet; er wird also nicht protentional antizipiert. Damit der Ton als zeitlich ausgedehnte Größe erscheinen und damit bewusst werden kann, müssen alle seine zeitlich unausgedehnten Jetztphasen, die der Reihe nach ins Sein treten, aufbewahrt werden und zwar so, dass sie in ihrem kontinuierlichen Nacheinander und vor allem in ihrem permanenten Vergehen zur Anschauung kommen. Dies ist die Aufgabe der Retention, deren Funktion und Leistung darin besteht, eben jetzt Gewesenes als solches zu präsentieren. Der Ton hat einen urimpressionalen Anfang, der — an sich zeitlich unausgedehnt — inhaltlich das aktuelle Jetzt erfüllt, im nächsten Moment jedoch schon von der folgenden Tonphase verdrängt und gleichsam ins Nichts gestoßen wird. Damit nun aber aus urimpressionalem Sein Bewusstsein wird, muss die vergangene Jetztphase aufbehalten und als vergangene zusammen mit der aktuellen Tonphase im neuen Jetzt präsentiert werden. Im nächsten Moment, wenn die dritte Tonphase auftaucht, muss nun aber — und das ist entscheidend — dieses ganze rudimentäre Zeitbewusstsein, das aus Urimpression 2 und Retention 1 (von Urimpression 1) besteht, retiniert werden. Denn nur durch die Präsentation der ganzen eben gewesenen Bewusstseinsphase ist es möglich, die Einheit des Bewusstseins und damit die Einheit des Erlebens zu gewährleisten. Da das Retinieren der eben gewesenen Bewusstseinsphasen kontinuierlich geschieht und jede retinierte Bewusstseinsphase selbst schon Retention der vorhergehenden Bewusstseinsphasen ist, ist die lebendige Gegenwart nicht nur die Gegenwart aller vergehenden Gegenstandsphasen, sondern auch die Selbstgegenwart des vergehenden Bewusstseins selbst.

Wichtig für das Verständnis des Zeitbewusstseins, seines Entstehens und seines fortwährenden Erhalts ist es, die Urimpressionen nicht als diskrete Atome zu denken, sondern als transitorische Phasen. Denn aus unausgedehnten, quasimathematischen Punkten lässt sich schwerlich ein Kontinuum (und schon gar nicht eines des Erlebens) aufbauen. Wir müssen alle Urimpressionen (erfüllten Jetzte) daher als fließend auffassen (so wie eine Linie nicht durch Summation von Punkten, sondern gleichsam nur durch die Bewegung eines Punktes konstruiert werden kann). Außerdem ist es wichtig, sich klarzumachen, dass die lebendige ›ausgedehnte‹ Urgegenwart und ihre Inhalte selbst nur im Jetzt existieren, das selbst kein nunc stans, sondern ein nunc fluens ist. Denn die vergangenen Inhalte und ihr Bewusstsein werden ja nicht in der Vergangenheit präsentiert, sondern sie erscheinen als Vergangene und Vergehende in der aktuellen Gegenwart des Bewusstseins (- das retentionale Bewusstsein ist nicht selbst in der Vergangenheit, sondern im aktuellen Jetzt). Und diese lebendige Gegenwart ist selbst jetzt und nicht vergangen (auch wenn ihre einzelnen Phasen vergehen und die lebendige Gegenwart daher beständig rekonstituiert werden muss). Dieses metaphysische fließende Jetzt (metaphysisch, da nicht durch das Bewusstsein oder durch ein Ich gesetzt), dem Sein und Bewusstsein unterstehen,9 darf aber nicht verdinglicht werden, sondern muss als die Weise verstanden werden, wie Sein und Bewusstsein existieren: nämlich als Jetztseiende im Übergang. Und das Vergangene und Zukünftige, ja auch das Nichtseiende ist nur, wenn es im Jetzt ist. Dies ist jedoch nur so möglich, dass es als Vergangenes, Zukünftiges und Nichtseiendes im aktuellen Jetzt präsentiert wird und so zur Anschauung kommt. Wir erinnern uns ja schließlich immer jetzt an etwas Vergangenes, und das Vergangene ist nur, wenn es mir präsent ist. »In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens« (WWV, IV, § 54), sagt Schopenhauer daher treffend.

Bewusstsein, lebendige Gegenwart, Uranschauung gibt es daher selbst nur als Phasenfolge, wobei aber alle vorhergehenden Phasen dank der Retention in jeder neuen Phase aufbewahrt sind und ›erinnert‹ werden. In jedem Moment haben wir ein lebendiges (präreflexives) Bewusstsein unseres selbst zeitlichen Erlebens von irgendwelchen Ereignissen oder Tätigkeiten, und genau darin zeigt sich, dass Bewusstsein als Erlebnisstrom zugleich und wesenhaft Bewusstsein dieses Stromes ist. Insofern ist die lebendige Gegenwart ein präreflexives, unbegriffliches Selbstbewusstsein.

Bewusstsein ist somit beides: stehend und strömend. Als sich durch das Retinieren von Urempfindungen herausbildende feste Struktur von Gegebenheitsweisen seiner Inhalte ist es bleibend; als selbst dem nunc fluens unterworfen, ist es vergehend, und durch das Retinieren kommt es sich selbst als Phasenfolge (Bewusstseinsfluss) zu Bewusstsein.10 Und da jede Bewusstseinsphase, indem sie das ganze vergangene und vergehende Bewusstsein ›widerspiegelt‹, auch die Inhalte dieser Bewusstseinsphasen in ihrer Zeitlichkeit zur Erscheinung bringt, so erscheint auch der Gegenstand als zeitlicher orientiert auf ein je neues Jetzt.

Bewusstsein (Anschauung) ist also die bleibende Gegenwart vergehender Bewusstseinsgegenwarten und des vergehenden Gegenwärtigen, oder kurz: Bewusstsein ist die Zeitform bzw. die zeitliche Gegebenheitsweise seiner Inhalte. Unter Zeitform ist aber das strukturell bleibende System der temporalen Gegebenheit der Inhalte und der Phasen des Bewusstseins gemeint: jetzt, eben gewesen, gerade kommend in infinitesimaler Abstufung. Jeder momentan-transitorische Inhalt durchläuft diese Stellenmannigfaltigkeit und erscheint dabei in jedem Moment neuorientiert auf ein je aktuelles Jetzt, von dem er sich zunehmend entfernt, dabei immer unanschaulicher wird und schließlich nur noch dunkel bewusst ist.

Verdeutlichen wir uns die Strukturgenese des Bewusstseins noch einmal an einer Skizze: Dargestellt wird hier die fortlaufende Genese des Bewusstseins, wobei hier zusätzlich der Übergang von einem nichtbewussten in einen bewussten Zustand dargestellt wird. Faktisch ist Bewusstsein immer schon als Strukturganzheit konstituiert und nur in Ausnahmefällen (z. B. Erwachen aus einer Vollnarkose) muss Bewusstsein neu generiert werden. J1-J4 symbolisieren die fließende Jetztfolge, der urimpressionales Sein und lebendige Gegenwart unterstehen. Alles, was es gibt, gibt es nur im aktuellen Jetzt. Bewusstsein als lebendige Gegenwart existiert daher nur momentan-transitorisch in einem unausgedehnten Moment. Daher muss es seine eigene Vergangenheit und die seiner Inhalte in jedem neuen Jetzt vergegenwärtigen. Dies ist dadurch möglich, dass permanent neue Urimpressionen auftreten und die eben gewesene Bewusstseinsphase retiniert wird, die selbst alle vorhergehenden Phasen retentional enthält. Jedem Jx ist daher eine momentane Phase der lebendigen Gegenwart zugeordnet. Man sieht, dass sich durch die retentionale Iteration eine feste Struktur herausbildet, durch die die Inhalte gleichsam fließen. Dies ist jedoch eine nur bildliche Rede, denn die einzige Aktivität, die stattfindet, ist das Retinieren und das passive Auftreten von Urimpressionen.

Nunc fluensJ1J2J3J4
Bewusstseins-phasenU1U2
R1 (U1’)
U3
R2( )
U4
R3(( ))

Die Zeit als Anschauungsform (= System temporaler Gegebenheitsweisen, das durch das iterativ-kontinuierliche Retinieren von Urimpressionen permanent generiert wird) ist also von der fließenden Jetztfolge streng zu unterscheiden. Insofern kann man aber auch sagen, Zeit sei Bewusstsein, nämlich wenn man mit ›Zeit‹ die lebendige Gegenwart meint. Das nunc fluens bezeichnet dagegen, wie gesagt, nur die Art und Weise wie die lebendige Gegenwart existiert: als unausgedehnte transitorische Phase, die alle vorhergehenden Phasen erinnert und somit die eigene Vergangenheit in ihrer Gegenwart spiegelt.

Und so bewahrheitet die phänomenologische Analyse die Einsicht Augustinus, dass es eigentlich nur die Gegenwart von Vergangenem (als Erinnern), die Gegenwart von Gegenwärtigem (als Anschauen) und die Gegenwart von Zukünftigem (als Erwarten) gibt, nicht aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an sich (vgl. Conf. XI, 26). Die einzige Gegenwart, die es an sich gibt, ist die lebendige Gegenwart, die aber gibt es nur für sie selbst bzw. für mich. Denn originär kann ich immer nur mein eigenes intentionales Bewusstsein erfahren, nicht das eines anderen.

Was nun aber das Verhältnis Gehirn — Bewusstsein anbelangt, so ergibt sich aus der Tatsache, dass Bewusstsein als Gegenwart von Welt die Zeitform alles Empirischen, ja aller Phänomene überhaupt ist, dass es nicht durch ein zeitliches Phänomen wie das Gehirn hervorgebracht werden kann. Denn das Gehirn ist als Erfahrungsgegenstand selbst bereits eine Tatsache des Bewusstseins, und Zeitinhalt und Zeitform stehen augenscheinlich im Verhältnis der Korrelation zueinander und nicht in dem einer kausalen Abhängigkeit. Ursache des Bewusstseins kann daher nur eine metaphysische Größe sein, die wir uns als den Ursprung der Urimpressionen und als Grund des Retinierens und Protinierens denken müssen, und die auch das urimpressionale Gehirn hervorbringt.


  1. Freilich tritt das Problem bei Descartes und seinen Nachfolgern in einem anderen terminologischen Gewand auf: Wie ist das Verhältnis von res extensa und res cogitans, Körper und Geist/Seele zu denken? Aber auch in der Analytischen Philosophie des Geistes wird phänomenales Bewusstsein unter die Kategorie ›mind‹ subsumiert — zu Unrecht, wie sich im Folgenden zeigen wird. ↩︎

  2. Ausführlich habe ich mich mit dieser Thematik in meinem Buch Das Wesen der Zeit. Zeit und Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl (Würzburg 2006) auseinandergesetzt. ↩︎

  3. Dass das Bewusstsein von (Seiendem in der) Welt wesentlich durch den eigenen Leib vermittelt ist, sei hier nachdrücklich betont. Der Leib selbst ist aber, so wie alle Tatsachen des Bewusstseins, wesentlich ein temporales Phänomen. Zum Verhältnis Leib-Bewusstsein vgl. Thorsten Streubel: Gehirn und Ich. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel. Frankfurt a.M. 2008. 79 ff. ↩︎

  4. Vgl. KrV, B 67: »Nicht allein, dass darin [im inneren Sinn] die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüt besetzen […].« ↩︎

  5. Vgl. KrV, B 52: »Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. […] Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität […]. […] Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist […].« ↩︎

  6. Vgl. hierzu auch Michael Oberhausen: Das neue Apriori. Kants Lehre von einer ›ursprünglichen Erwerbung‹ a priorischer Vorstellungen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. ↩︎

  7. “Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung.” (KrV, B 34) ↩︎

  8. Und insofern Körper und Geist selbst zu Tatsachen des Bewusstseins werden, kündigt sich bei Kant eine neue Sicht auf das alte Leib-Seele-Problem an. ↩︎

  9. Sein im Sinne der Gesamtheit dessen, was ist, nicht im Sinne Heideggers. ↩︎

  10. Vgl. Hua X, 114: »Verbleibend ist vor allem die formale Struktur des Flusses, die Form des Flusses. D.h. das Fließen ist nicht nur überhaupt Fließen, sondern jede Phase ist von einer und derselben Form, die beständige Form ist immer neu von ›Inhalt‹ erfüllt, aber der Inhalt ist eben nichts äußerlich in die Form Hineingebrachtes, sondern durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt: nur so, dass diese Gesetzmäßigkeit nicht allein das Konkretum bestimmt. Die Form besteht darin, dass ein Jetzt sich konstituiert durch eine Impression und dass an diese ein Schwanz von Retentionen sich angliedert und ein Horizont der Protentionen. Diese bleibende Form trägt aber das Bewusstseins des ständigen Wandels, das eine Urtatsache ist: das Bewusstsein der Wandlung der Impression in Retention, während stetig wieder eine Impression da ist, oder im Hinblick auf das Was der Impression, das Bewusstsein des Wandels dieses Was, während das soeben noch als ›jetzt‹ bewusste in den Charakter des ›soeben gewesen‹ sich modifiziert.« ↩︎