Die Gründung einer philosophischen Theologie im Ereignis

In der 24. Vorlesung seiner »Einleitung in die Philosophie der Mythologie«, der letzten jener langen Reihe der Überlegungen, mit denen er die Leistungsfähigkeit der Vernunft im Hinblick auf Religion überprüft, trägt Schelling die These vor, dass »es innerhalb der Vernunftwissenschaft keine Religion« und also derart »überhaupt keine Vernunftreligion« gebe.1 Es klingt wie eine Aufnahme dieser These, wenn Heidegger in seinem Bericht an Natorp über die hermeneutische Situation, in welcher sich seine Interpretationen zu Aristoteles finden., die Frage einfließen lässt: »Ob nicht schon die Idee einer Religionsphilosophie, und gar wenn sie ihre Rechnung ohne die Faktizität des Menschen macht, ein purer Widersinn ist?«; — und ob es dabei in Wirklichkeit nicht lediglich um »verführerische, Religiosität lediglich beredende Besorgnis« gehe.2 Schließlich mag man an diese These und diesen Verdacht, welche die Möglichkeit einer philosophischen Theologie überhaupt in Frage stellen und die post-ontotheologische Vernunft dazu auffordern, als Vernunft als bei ihrem Leisten zu bleiben, auch noch die gern übersehene Feststellung Kants aus dem letzten Stück seiner Religionsschrift anschließen: »In der Tat ist es auch ein widersinnischer Ausdruck, dass Menschen ein Reich Gottes stiften sollten; Gott muß selbst der Urheber seines Reiches sein«.3

Stellt es sich für die ihrer eigenen Leistungsfähigkeit gegenüber kritische post-onto-theologische Philosophie nicht als ein zwingendes Gebot dar als Philosophie im Atheismus zu verharren?4 Hat eine philosophica theologia, so wie sie seit der griechischen Klassik ausgebildet wurde und insbesondere seit der Hochscholastik für das christliche Denken systembildend war,5 heute überhaupt noch einen Sinn? Welchen Rechtsgrund hat sie? Und wenn es einen solchen gibt, wie ist von diesem her gesehen ihr Vorgehen (ihre »Methode«) bestimmt und als vernünftig ausgewiesen?

1. Die Problematizität des Begriffes einer »philosophischen Theologie« in sich

Auf diese Frage wird man eine Antwort nur finden können, wenn man sich zunächst einmal ohne Vorbehalt der ganzen Problematizität stellt, welche für unser Denken heute die von der Überlieferung bis hin zum Deutschen Idealismus scheinbar so selbstverständlich gebrauchte transzendentale Kategorie einer philosophischen Theologie in sich birgt. Ist philosophica theologia nicht von vornherein so etwas wie ein »hölzernes Eisen«?

Denn wenn immer die Vernunft durch ihre Autonomie konstituiert ist, so kann sie doch notwendig »ni Dieu ni maître« kennen. Und wenn Gott Gott ist, so ist er doch offenbar der »mit nichts zu Vergleichende«,6 »dessen Gedanken nicht unsere Gedanken«7 sind. Denkt das Denken, wenn es »Gott« denkt, mit Notwendigkeit Gott schon nicht mehr?

Wollen wir diese Frage als Frage richtig stellen, so werden wir zunächst einmal versuchen müssen, uns mit der Korrelation einzulassen, welche mit dem Begriff »philosophische Theologie« behauptet wird. Alles Denken ist ja, — dieses Fundament hat Husserl, wie mir scheint, mit Recht herausgearbeitet —, letzten Endes »Korrelationsforschung«.8

In der Korrelation zwischen dem Denken und dem, was das Wort »Gott« anzeigt, erweist sich aber zunächst einmal das erste Glied als das problematische, insbesondere seit dem Ende jener Großepoche, deren Voraussetzung es war, dass sich der Mensch als imago Dei verstand, und folglich seine Vernunft als Abbild göttlicher Vernunft. Mit der Aufgabe dieser Voraussetzung jedoch findet sich menschliches Denken mit sich selbst allein. Die Autonomie der Vernunft wird nun zu dem einzigen Rechtsgrund für das Tun der Vernunft. Alle Philosophie ist »Autognosie« und »Autonomie«,9 so Kant. In dieses Sich-Selbst-hell-sein der Vernunft für sich selbst ist denn aber alles, worauf das »oregesthai eidenai« als die Urstrebung des Menschen10 geht, einbegriffen. Fichte kann deshalb 1804 seine Vorlesungen der Wissenschaftslehre so ankündigen: »Der Unterzeichnete erbietet sich zu … der vollständigen Lösung des Rätsels der Welt und des Bewusstseins mit mathematischer Evidenz«.11 Die derart in ihrer Autonomie gründende Vernunft erfasst deshalb in der Tat die Welt so »wie Gott sie denken müsste«,12 so Fichte. Und die Philosophie ist deshalb, mit Hegel, die »Wissenschaft des absoluten Grundes aller Dinge«.13 Damit ist sie durch sich selbst aber durchaus auch schon »fortdauernder Gottesdienst«;14 und in diesem Sinne philosophica theologia. Philosophieren bedeutet, wie schon bei Platon, »Angleichung an den Gott«15 oder gar wie bei Plotin »Einerleiheit«, »tautotes«, mit dem Gott.16

So atemberaubend solche im Deutschen Idealismus im nachkantischen Denken noch einmal zu einem Höhepunkt gekommenen Entwürfe einer theologia philosophica auch sein mögen, (in die auch der frühe und mittlere Schelling einbezogen werden muss), so sehr muss man diese Entwürfe doch, versteht man Philosophieren als das korrelative Sich-Einlassen der Vernunft mit der Wirklichkeit dem Verdacht auszusetzen, das Ganze und Göttliche, welches die sich so verstehende autonome Vernunft im Überstieg über jedes Endliche und Bedingte erreicht, lediglich zu erfabulieren. Denn das hier wie selbstverständlich zugrunde liegende und seinerseits nicht mehr hinterfragte Verständnis von Vernunft und Erkennen als einem Sehen (eidenai) leidet ganz offensichtlich unter einer Bornierung, die sich in solcher Rigorosität allerdings erst im neuzeitlichen nachcartesianischen Denken ausbildet, die aber ohne Zweifel im griechisch-metaphysischen Denken von Anfang an angelegt ist.

Diese Bornierung hat aber ihren wesentlichen Grund in einer Entzeitlichung des Denkens. Sie geschieht durch eine Vernachlässigung der Aufmerksamkeit auf die Zeitlichkeit des Erkennens selbst.

Freilich muss das, was wahr ist, immer wahr sein. Es muss immer schon wahr sein. Und es muss in alle Ewigkeit wahr sein: »Die durchsichtige und einfache Ruhe«,17 so Hegel und Thomas von Aquin: »Vera sunt aeterna«.18 Insofern stellt sich das Philosophieren denn mit Recht als die Ausarbeitung der apriorischen Inhalte der begreifenden Vernunft dar,19 so Kant in der Kritik der Urteilskraft. Philosophieren bedeutet, so wird der junge Schelling formulieren und damit Fichte auslegen, die »Erinnerung an die transzendentale Vergangenheit des Selbstbewusstseins«20 und insofern ein Sich-Stellen auf den »Standpunkt des Absoluten«.21

So sehr dies einsichtig ist und das Streben nach solcher Ewigkeit der Wahrheit sich für menschliches Erkenntnisstreben als konstitutiv erweist, so sehr hat andererseits aber doch schon die kantsche Kritik an der Rationalität der reinen Vernunft den Blick dafür eröffnet, dass das wirkliche Erkennen, und zwar zunächst einmal gerade auch schon als das gegenständlich-objektivierende, erst in dem »fruchtbaren Bathos der Erfahrung«22 stattfindet in einem Geschehen, in welchem die apriorische »Gesetzgebung der Vernunft« auf die ihr unverfügbare andere Quelle der Sinnlichkeit trifft. In einem ersten, durchaus noch in der Dimension der gegenständlichen begreifenden Erfahrung verbleibenden Sinn, geschieht, — oder, um dieses Wort hier schon einzuführen — zeitigt sich wirkliches Erkennen erst in diesem der Autonomie der Vernunft nicht einfachhin a priori verfügbaren Ereignis des Connubiums von Sinnlichkeit und Verstand. Dieses Grundmodell hält sich, so meine ich, auch in den Wissenschaftstheorien des 20. Jahrhunderts — von Popper bis Lakatos — durch. Philosophieren geschieht so keineswegs »aus Erfahrung«, sondern lediglich »für Erfahrung«;23 so Kant im Opus postumum.

Wie aber verhält es sich dann, um den Faden unserer Besinnung mit Kant weiterzuspinnen, mit dem Zugang des Denkens zu dem Vermögen der Prinzipien, d. h. den transzendentalen Ideen, deren vornehmste das transzendentale Ideal »Gott« ist? Wenn Philosophieren bedeutet, sich mit einer Korrelation einlassen, welche Potenz kommt dem Denken als dem autonomen hier zu?

Ich möchte die Antwort auf diese Frage, die identisch ist mit der Frage nach der Möglichkeit einer philosophischen Theologie, die im Ernste von Gott spricht, nun nicht einfach im Gefüge des kantschen Denkens suchen. Kants Weg, der von den Aporien der reinen praktischen Vernunft in deren Verwirklichung ausgeht, ist hinlänglich bekannt. Vielmehr möchte ich von der Grundfrage nach dem Wesen des Denkens als einem sich überhaupt nur in der Korrelation vollziehen könnenden ausgehen.

2. Philosophieren

2.1. als das Sich-Einlassen mit der zeitlosen Korrelation noesis-noema

Man kann solche Korrelation als das Grundgeschehen des philosophischen Denkens selbst noch einmal zeitlos verstehen, als schrittweise sich im Spiel von noesis und noema zutragende Aufdeckung des bleibenden Wesens des Seienden und seiner inneren Teleologie. So geschieht dies in der reflektierenden Phänomenologie Husserls, die sich als transzendentaler Subjektivismus darstellt. Die Transzendentalität der derart sich mit der Korrelation von noesis und noema einlassenden Reflektion bedingt dabei aber zugleich auch die Aufhebung der konkreten leibhaftigen Einmaligkeit der reflektierenden Subjekte. Durch die transzendental-phänomenologische Reduktion verliert »die psychologische Subjektivität … den Seinssinn Seele eines in der vorgegebenen raum-zeitlichen Natur daseienden Leibes«, so Husserl in aller Deutlichkeit im Nachwort zu den Ideen.24 Dies ist andererseits wiederum die Voraussetzung für die »Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische(r) Intersubjektivität«.25 Im Horizont der derart enthüllten transzendentalen Seinssphäre kommt es bei Husserl dann durchaus zu den Ansätzen einer philosophischen Theologie, wie aus unveröffentlichten Manuskripten und aus der Krisisschrift hervorgeht. »Eine autonome Philosophie … kommt notwendig zu einer Teleologie und philosophischen Theologie … als inkonfessionelle(m) Weg zu Gott«.26 Der, so Husserl, durch »die Hölle einer nicht mehr zu übersteigernden … Epoché« Hindurchgegangene dringt »zum Eingangstor in den Himmel« einer absolut rationalen Philosophie vor.27 Der Preis dafür ist aber die Eliminierung des geschichtlich-konkreten leibhaftigen Daseins als eines sterblichen. Der Preis dafür ist die Eliminierung der »faktischen Lebenserfahrung«, welche als eine »selbstverständliche Nebensächlichkeit« abgetan wird.28 Dieser Eliminierung wegen befand Rosenzweig schon 1919, Husserls Phänomenologie sei zu schön, um wahr zu sein.29 Sie eliminiert die Faktizität des sterblich geschehenden Daseins.

2.2. als das Sich-Einlassen auf eine Hermeneutik der Faktizität. Die doppelte Bedürftigkeit des Denkens

Nimmt man diese scheinbar selbstverständliche Nebensächlichkeit der Faktizität des sterblichen und erst so erkennenden geschichtlichen Daseins aber ernst und erkennt in ihr den ersten Rechtstitel allen Philosophierens, der also derart dann nicht nur in der originär gebenden Anschauung liegt, so wird man zu allererst einmal auf ein Überhangproblem aufmerksam, eine fundamentale Negativität im Geschehen des Erkennens selbst. Man wird auf ein fundamentales Nicht-Vermögen des Erkennens aufmerksam, auf das prinzipiell schon der späte Schelling aufmerksam wurde. Aber man wird darauf nicht in einem idealistischen Kontext aufmerksam, sondern im Sich-Einlassen mit der Geschichtlichkeit des geschichtlichen Daseins selbst, mit seiner Zeitigung als Zeitigung.

In einem Hinausgehen über Husserl mit Husserl hat J.L. Marion im letzten Jahrzehnt dieses Überhangproblem, diese das Erkennen selbst fundierende Bedürftigkeit, in der Differenz von phénomène non saturé und phénomène saturé zu fassen versucht. Die Phänomenalität, zu der die Husserlsche Intentionalitätsanalyse führt, ist immer nur eine »ungesättigte« insofern sie nämlich das Sich-Geben des von ihr Gesichteten als Sich-geben, d. h. dessen Bedürftigkeit zur Verwurzelung in einer donation, nicht thematisieren kann.

Radikaler deutlich wird das Problem aber, wenn man den scheinbar selbstverständlichen Horizont »Sein« als Voraussetzung des Erkennens selbst noch einmal in Frage stellt, wenn man also derart die Seinsfrage stellt, so wie dies bei Heidegger und parallel zu Heidegger und historisch gesehen sogar eher früher bei Rosenzweig geschehen ist. Dieser ging dabei ausdrücklich von dem hebräischen Denken aus und der Differenz des Sinnes des Verbums hajah gegenüber dem des griechischen einai. »Denn das hebräische “hajah” ist ja nicht wie das indogermanische “sein” seinem Wesen nach Kopula, also statisch, sondern ein Wort des Werdens, Eintretens, Geschehens«.30

In dieser Wende des überlieferten metaphysischen Denkens in ein andersanfängliches neues Denken hinein, geschieht eine Einkehr des vorbehaltlosen Fragens in das fruchtbare Bathos von Geschichte und Sprache hinein, die für Rosenzweig — und in seinem Gefolge für Levinas — ausdrücklich mit dem Aufmerksamwerden auf den Anderen als den mir unverfügbaren Anderen verbunden ist. Und dies wiederum stellt sich für Rosenzweig als eine Artikulation der biblisch-talmudischen Grundeinsicht dar, dass die endliche Wirklichkeit überhaupt nur in Scheidungen und dank der Scheidungen besteht.31 Die Wirklichkeit ist für das endliche sterbliche Erkennen nicht eine für dieses Erkennen erreichbare eine. Deshalb kann das neue Denken letztlich nur »erfahrendes Denken«32 sein.

Rosenzweig nennt dieses erfahrende Denken auch »Sprachdenken«, oder »grammatisches Denken«, im Unterschied zu einem bloß logischen Denken. Am tatsächlichen Geschehen von Sprache liest Rosenzweig denn auch die doppelte Bedürftigkeit ab, durch die das auf den Boden seiner Geschichtlichkeit kommende neue Denken stigmatisiert ist: »… der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit«.33

In seinem »Vollzugssinn« oder »Zeitigungssinn«,34 in seinem Sich-Zeitigen selbst, wird das Denken darauf aufmerksam, dass es keineswegs in einem absoluten Sinne autonom ist, sondern dass es des von den eigenen apriorischen Potenzen geschiedenen anderen bedarf, nämlich des anderen Menschen, mit dem das Denken in seinem Vollzugssinn in Kommunikation tritt. Und ebenso ist es bedürftig der ihm gegenüber anderen sachlichen Wirklichkeit. Dabei wird es aber zugleich dessen inne, dass es als wirkliches und nicht nur illusionär funktionales Denken, die als sie selber geschehende Zeit ernst nehmen muss.

Zeit: Rosenzweig hat hier deutlich unterschieden zwischen der »Zeit, in der etwas geschieht«, nämlich dem arithomos kineseos, einem Zeitverständnis, das sich von Platon und Aristoteles über Augustin bis Husserl durchhält, und der Zeit, die als »sie selber geschieht«,35 nämlich, so können wir sagen, als Geschichte zwischen Freiheit und Freiheit. Zeit so verstanden muss das Denken ernst nehmen, wenn es nicht dem »Tic des zeitlosen Erkennens«36 erliegen, sondern bei der Wirklichkeit sein will, die zuäußerst als Freiheit und Geschichte besteht.

2.3. Ereignis

Derart geschieht es aber im Ereignis. Rosenzweig hat dieses Wort 1918/1919 in den Mittelpunkt seines Werkes »Der Stern der Erlösung« gestellt; und zwar verbunden mit dem Partizip passiv: »ereignetes Ereignis«.37 Darin liegt eine ausdrückliche Abkehr von dem von Dilthey herkommenden und von vielen Philosophen des Jahrhundertbeginns gebrauchten Modeworts »Erlebnis«, das ja verbal als Kategorie auch noch in Husserls »intentionalen Erlebnissen« eine, wenn man so will: führende Rolle spielt.38 Erst im Ereignis, dessen Geschehen bei äußerster Anspannung des Denkens doch zugleich eine Passivität innewohnt — man könnte hier an Husserls »passive Synthesis« denken, auf die sich später Levinas berufen wird, — kommt das Denken als eine Hermeneutik der Faktizität wirklich zu ursprünglicher Wahrheit, die sich indessen dann bewähren muss. Die Zeit, die als »sie selber geschieht«, geschieht in dem Ereignis.

Deshalb ist das Ereignis eben auch nicht vorwegnehmbar. Es zeigt sich als »augenblicksentsprungenes Geschehen«.39 Und es ist zeitgebunden; wenngleich es, einmal eingetreten, seine unumstößliche Bedeutung in die Zukunft hinein behält und eben gewährt; oder vielleicht auch nicht bewährt. Das Verständnis von Wahrheit selbst wird hier in das Geschehen von Geschichte eingebracht in einer Erkenntnistheorie, die Rosenzweig eine letztlich messianische nennt.40

In der Zeitlichkeit des Ereignisses wird der Erkennende zugleich immer ent-eignet; nämlich seiner als apriorisches Haben gedachten Autonomie. Er wird dadurch allerdings zugleich in sein Eigenes, ihm als zeitliche Gabe als ihm selbst Zukommendes gestellt. Das Ereignis erweist sich so als die das ursprüngliche Denken in seine Aktualität bringende eigentliche autonome Wirklichkeit.

Das Ereignis ereignet sich aber immer als Stiftung von Sprache — zwischen dem Anderen und mir.41

2.4. Offenbarung

Deshalb kann denn auch das ereignete Ereignis, in welchem authentisches Denken Fuß fasst, als das Ereignis von Offenbarung verstanden werden — zunächst einmal rein formal in einem deskriptiven Sinn. In Rosenzweigs Stern der Erlösung findet solche formal in jedem authentischen Sprachereignis geschehende Offenbarung ihre inhaltliche Erfüllung letztendlich aber im Ereignis der biblischen Offenbarung. Hier ereignet sich, so könnte man roh gesprochen sagen, das Wichtigste zwischen geschichtlichen sterblichen Menschen zu Sagende. Die Differenz zwischen einem rein formal anzeigenden Sinn von Offenbarung und dem erfüllten Gehaltssinn der biblischen Offenbarung bedürften ohne Zweifel der Ausarbeitung. Mir kommt es hier zunächst einmal nur darauf an, den prinzipiellen Zusammenhang zwischen dem in einer Hermeneutik der Faktizität zugänglich werdenden Ereignis und dem Ereignis von Sprache und Offenbarung anzuzeigen.

3. Die Gründung einer in einem erfahrenden Denken geschehenden theologia in dem Ereignis

Denn von hier aus kann, so meine ich, allererst begründet die Frage angegangen werden, was denn in einem neuen — und das ist also nachmetaphysischen — Sinn philosophische Theologie heißen könne.

Dabei werden wir zunächst kurz das neue Verständnis von Philosophieren, das hier anzusetzen ist, ausarbeiten müssen.

3.1. Die Gründung jedes Philosophierens im Sich-Verwundern. Die Beanspruchung der Autonomie durch Heteronomie

Alles Philosophieren gründet nach dem unüberholten Wort Platons im Sich-verwundern.42 Was in einem ursprünglichen Denken zur Sprache kommt, ist immer Iris, die Tochter des Thaumas. Gerade dieser Ursprung wird aber ausgeblendet, dort wo in einem entzeitlichten Autonomieverständnis das Wesen der Wahrheit in einem geschichtslosen »System derselben«43 gegründet wird. Mit dieser Ausblendung ist aber zugleich ein Ausschluß des einzelnen sterblichen Menschen, der immer nur im Plural vorkommt, gegeben: meines sterblichen Daseins und das den Anderen als des Anderen selbst.44

Liegt nun aber, und diese Einsicht findet sich ja schon bei Kant, die »größte Ursache des Wohl- oder Übelbefindens … in dem Verhältnis mit anderen Menschen«, so muss die Tätigkeit des Philosophierens in einem Durchbrechen des Horizontes der bloßen Apriorizität und Systematizität zu dieser ernstesten Frage vorstoßen als zu dem Feld der eigentlichen »Seinsfrage« in ihrem Sich-Ereignen. Oder, so Levinas:

Wenn das Wesen der Philosophie darin besteht, diesseits aller Gewissheiten zum Prinzip zurückzugehen, wenn sie von der Kritik lebt, dann ist das Antlitz des Anderen der eigentliche Anfang der Philosophie. Thèse d’héteronomie qui rompt avec une tradition très vénerable.45

Und:

L’enseignement de moi par l’Autre créé raison.46

(Dabei darf darauf hingewiesen werden, daß der Begriff der Autonomie ja gerade auch bei Kant ursprünglich eine Bestimmung der praktischen Vernunft ist. Er taucht dementsprechend überhaupt erstmals in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten auf47 und stellt sich dort als das Prinzip des kategorischen Imperativs dar. Dies koinzidiert mit der These in der Kritik der praktischen Vernunft »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen«.48

Gründet also alles radikale fragende Denken, das als geschichtliches Denken selbst noch einmal »verantwortet werden muß«49 gerade in seiner Autonomie noch einmal in einer Heteronomie, einem sich als Zeit ereignenden Herausgefordertwerden durch den Anderen, so kann allein von daher denn auch eine nachmetaphysisch philosophische Theologie zugänglich werden.

3.2. Der dreifache Vollzugssinn des Sich-Einlassens mit dem, was zu denken gibt

Dies kann nun aber (ich gestatte mir der gebotenen Kürze wegen hier unmittelbar Rosenzweig zu folgen) in einem dreifachen Vollzugssinn geschehen, der dann auch zu drei jeweils sich unterscheidenden und allerdings aufeinander bezogenen Verständnissen einer theologia philosophica führt.

a) Unter methodischer Einklammerung der Faktitzität des Denkenden

Zum einen kann nämlich die Vernunft in ihrem Selbstvollzug, in welchem sie immer ein Sich-Überschreiten ist, in der Tat von ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Sterblichkeit absehen und unter der Voraussetzung solcher Einklammerung fragend zu den immer gültigen Bedingungen der Möglichkeit ihres Verstehens von Wirklichkeit aufsteigen. So ist philosophische Theologie in der Tat weitgehend im vom klassischen griechischen Denken geprägten abendländischen Denken vorgegangen. Und so versteht denn ja auch Thomas von Aquin philosophische Theologie. Sie geschieht in der transzendierenden Bewegung des intellectus, die zu den Transzendentalien aufsteigt: zu ens, substantia und actus. Und diese Separata a materia50 können in ihrer Absolutheit dann durchaus als Namen Gottes gebraucht werden: et hoc omnes nominant Deum;51 so, durch dieses »nominant« ihren Ort angeben, Thomas in den quinquae viae. Aber das so durch das Denken erreichte Verständnis des Göttlichen als eines Prinzips des subjectums scientiae unterscheidet Thomas in aller Deutlichkeit dann eben doch von dem Verständnis der göttlichen Dinge, so wie sie um ihrer selbst willen betrachtet werden. Dies aber ist allein in der theologia gegeben, welche die Heilige Schrift überliefert.52

Jedoch selbst ein solcher metaphysischer Aufstieg zu dem Horizont des Göttlichen erfolgt dort, wo der Denkende sich selbst in die hier in die im Transzendieren geschehende Korrelation mit einbringt, in Wirklichkeit nicht ohne ein ausdrückliches Sich-Zeitigen. Er geschieht in seinem Ins-Ziel-kommen in einem Ereignis. Das beste Beispiel dafür scheint mir das 7. Buch der Confessiones Augustins zu sein. Unter der Voraussetzung des Fragens des Denkenden nach sich selbst — factus sum mihi magna quaestio —,53 des Problems »unde malum?« und des neuplatonischen Chorismos »Veränderliches-Unveränderliches« kommt die ratiocinans potentia hier doch nicht einfach durch sich selbst zu ihrem Ziel. Vielmehr, Augustin beschreibt dies sehr genau, indem sie sich »ad intelligentiam suam« aufzurichten sucht, indem sie nach ihrem eigenen Sich-Verstehen-können fragt, gelangt sie »in ictu trepidantis aspectus«, im Blitzschlag eines zitternden Erblickens zu jenem, was schlechthin ist, »quod est«. Sie wird davon im Augenblick berührt. Und dieses »quod est« gelangt keineswegs in ihren Besitz. Vielmehr, so bekennt Augustin, »aciem figere non evalui«. Und ich behielt nichts zurück als eine »liebende Erinnerung«, bei der »mich ein Verlangen ergriff, als hätte ich den Duft einer Speise verspürt, die zu essen ich noch nicht fähig war«.54 Dieser Beschreibung einer zeitlosen und doch zeitlich sich ereignenden Gotteserfahrung, die ihm sofort wieder entgleitet, fügt Augustinus aber hinzu »Et quaerebam viam — nec inveniebam«. Der im Augenblick erkannt Habende bleibt in der Frage. Selbst in dem neuplatonisch-metaphysischen Kontext, der Augustins Denken ohne Zweifel insgesamt bestimmt, kommt die Beschreibung des Aufstieges der nach ihrem eigenen Selbstverständnis suchenden Vernunft zu dem Äußersten nicht ohne eine geschichtlich-dialogale Ereignishaftigkeit aus. Durch sie wird zugleich gewahrt, dass »das Heilige dem Denken heilig bleibt«, um hier ein bekanntes, und wie ich meine, für jede Phänomenologie des Religiösen zentrale Wort Klaus Hemmerles ins Spiel zu bringen.55

Meiner Ansicht nach zeigen sich Spuren einer solchen geschichtlich dialogen Ereignishaftigkeit selbst noch bei Anselm von Canterbury; nämlich dort, wo Anselm nach einer gewissen retractatio zumindest der gängigen Rezeption des 2. Kapitels des Proslogion im Zusammenhang mit dem lapidaren »Ergo, Domine, non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit« des XV. Kapitels Gott anruft: »Domine Deus meus, formator et reformator meus, dic desideranti animae meae, quid aliud es, quam quod vidit …«.56 Nicht nur von der Anderheit Gottes allem Sehen gegenüber wird hier gesprochen, sondern auch von dem "einmal und immer wieder — der Erfahrung des formator et reformator.

Bereits in klassisch überlieferten Gestalten metaphysischer Theologie findet sich also die Gründung des vernünftigen Sprechens von Gott — wenn hier wirklich von Gott gesprochen werden soll — im Ereignis. Dieses trägt sich freilich zunächst im Denken selbst zu, derart jedoch, dass hier Gott und Denken voneinander getrennt bleiben und gerade deshalb der Gedanke Gott dem Denkenden im Ereignis seines Aufgehens aufgehen kann. Franz Rosenzweig, den wir hier als Paradigma eines ausdrücklich nachmetaphysischen Diskurses verstehen wollen, hat dem dadurch Rechnung getragen, dass er im I. Teil seines Sterns der Erlösung, der die »Möglichkeit das All zu erkennen« analysiert, das Urphänomen Gott als reines Phänomen des Denkens als paradoxes Phänomen beschreibt. Das reine Phänomen Gott kann hier nur widersprüchlich gedacht werden. Als unbedingte Notwendigkeit und als absolute Freiheit zugleich: als, wenn man so will, Ereignis dieser Widersprüchlichkeit; wie im übrigen auch die Urphänomene Welt und Mensch in einem reinen Denken nur als paradoxe Phänomene gedacht werden können. In dieser Paradoxalität zeigt sich aber ihre Unauflösbarkeit in das reine Denken hinein. Aber mit dieser Paradoxalität als Paradoxalität ist das Denken gleichwohl als Denken konfrontiert. Insofern widerfahren die drei Urphänomene als äußerste Phänomene des Denkens, die in gewisser Weise Kants transzendentalen Ideen entsprechen, dem Denken. Sie ereignen sich für das Denken, wenn jeweils auch als zeitlose Phänomene. Dem entspricht meiner Ansicht nach durchaus das Heideggersche Ereignisdenken als reine Strukturbeschreibung insofern es die Götter und den Gott zur Sprache bringt.

Von dem Heiligen, den Göttern und dem Gott kann nur gesprochen werden, insofern dem Denken im Ereignis ein Korrelationsgeschehen aufgeht:

»Das Seyn west als das Ereignis. Dies ist der Grund und Abgrund der Verfügung des Gottes über den Menschen und kehrig des Menschen für den Gott. Diese Verfügung aber wird nur ausgestanden im Da-sein.«57 Zugleich geht mit diesem Ereignis aber Welt auf als das Gegeneinander-über von Welt/Himmel und Erde.58

Diese reine Strukturanalyse des zuäußerst zu denken Gebenden durch das um seine eigene Zeitlichkeit zwar wissenden als solches aber das zuäußerst zu denken Gebende in eine immer geltende Struktur einbringenden Denkens kann man in einem ersten Sinn philosophische Theologie nennen. Sie verbleibt indessen als reine formale Strukturanalyse der Bedingungen der Möglichkeit selbst noch einmal im zeitlosen Bereich des nur Möglichen.

b) Die in einem einzelnen geschichtlichen Ereignis gründende, das Denken beanspruchende Theologie

Wenn aber die ganze Wirklichkeit erst die faktisch geschichtlich sich ereignende ist, die durch keinen apriorischen Formalismus eingeholt werden kann, wenn wir, um von Gott, dem Wirklichen, überhaupt sprechen zu können, »eines activen Gottes« bedürfen, um hier Schellings Formulierung aufzugreifen,59 wenn unser Sprechen von Gott nicht bei uns, sondern nur bei Gott selbst seinen Ursprung haben kann, soll es denn wahres und bewährtes Sprechen sein, dann ist zu fragen, ob es philosophische, d. h. denkende und bedachtsame Gott-Rede nicht in einem zweiten Sinn geben muss; nämlich als solche, die im Sinne des Bedürfens des Anderen, und was dasselbe ist: im Ernstnehmen der Zeit, die als Geschichte geschieht, in dem geschichtlichen Ereignis der geschichtlichen Begegnung mit Gott dem Lebendigen gründet.

Solche Begegnung wird und muss sich aber sprachlich bezeugen in geschichtlicher Sprache zwischen geschichtlichen Menschen. Ist solche Sprache, die Sprache der Offenbarung, dann aber ohne Denken? Oder geschieht sie nicht ihrerseits bedachtsam; allerdings so, dass Denken nun vollends den Charakter der Formalität der apriorischen Autognosie verliert und sich als gegründet im Ereignis geschichtlicher Offenbarung erfährt, — ohne deshalb aufzuhören, kritisches Denken, äußerste Inanspruchnahme der Intentionalität des vernünftigen Vernehmens zu sein. Man könnte hier von glaubendem Denken oder auch, mit der alten Formel von einem quaerere intellectum fidei sprechen: vernünftig fragendem Glauben. Mit Recht stellt O. Pöggeler angesichts der scharfen Trennung von Denken und Glauben bei Heidegger die Frage: »Wie kann eine Wesensstruktur, die als geschichtliche ergriffen wird, noch formal bleiben?«60

Wird man solches, das Fragen nicht aufgebende, sondern in ihm verharrende sich-Herausfordernlassen durch die Faktizität von Offenbarung dann aber nicht auch, und nun allerdings in einem vertieften Sinne, theologia philosophica nennen dürfen?

Heidegger hat meines Erachtens diese Möglichkeit nicht geleugnet. Aber er bestand um des Charakters der Philosophie als eines nur sich selbst verpflichteten Stellens der Seinsfrage willen auf einer reinlichen Scheidung von Denken und Glauben. Diese hält sich auch in sein Denken nach der Kehre hinein durch. Allerdings nimmt er für die Fundamentalontologie gegenüber der positiven Theologie ausdrücklich die Funktion eines »mögliche(n), formal anzeigenden) ontologische(n) Korrektiv(s) des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehalts der theologischen Grundbegriffe«61 in Anspruch.

Das Denken wird in der Lebensbewegung des Glaubens nicht durchgestrichen. Denn das zum Glauben herausfordernde Ereignis des Deus absconditus sed tamen non ignotus will ja den Menschen in seinen höchsten Fähigkeiten treffen. Deshalb kommt dem fragenden Denken, das der junge Heidegger ontologisches Korrektiv nennt, eine entscheidende Rolle innerhalb des Lebensaktes des Glaubens selbst zu. Es wird sich zum einen als die Wachsamkeit gegenüber einem pervertierten idolischen Glauben äußern und zum andern auch in einer Kritik an borniertem Offenbarungs- und vielleicht noch mehr und genauer: Lehramtspositivismus äußern. Dies aber dient gerade der Authentizität des Glaubens selbst.

Rosenzweig hat im 2. Teil seiner Hermeneutik der faktischen Bewegung geschichtlichen menschlich-mitmenschlichen Daseins und In-der-Welt-seins seinerseits noch einmal denkend die Grundstruktur einer solchen im geschichtlichen Ereignis selbst gründenden theologia zu beschreiben gesucht. Dieser II. Teil des Sterns der Erlösung, der in der 2. Auflage auf Rosenzweigs Wunsch als eigenes, vom I. Teil getrenntes Buch erschien, trägt den Titel: »Von der Möglichkeit das Wunder zu erleben«.62

“Wunder” ist hier aber nichts anderes als ein Synonym für Offenbarung. Wie ist dies für den Denkenden zu verstehen, dass es Offenbarung gibt? In dieses Fragen gibt sich das Denken des sterblichen und doch zugleich seine eigenen apriorischen Denkmöglichkeiten ernstnehmenden Menschen in dieser zweiten Weise eines denkenden Sprechens von Gott hinein. Die Analysen Rosenzweigs zeigen, dass Offenbarung, wenn sie denn wirklich Offenbarung Gottes sein soll, nur in dem »augenblicksentsprungenen Geschehen des ereigneten Ereignisses«, nämlich des Einbruchs des göttlichen An-spruches in die absolut gesetzte menschliche Autognosie geschehen kann. Dieser Einbruch führt jedoch durch das Geschehen der Bekehrung zu der wahren Identität des sterblichen und in seine Freiheit zum Guten und zum Bösen gestellten Menschen. Das ereignete Ereignis der Offenbarung erweist sich so als das Geschehen des unbedingten Bejahtwerdens der erfüllten Freiheit des sterblichen Menschen.

Im Lichte dieses ereigneten Ereignisses erscheint dann aber allererst auch die Welt als Schöpfung und der an sich metaethische Mensch, der Freiherr seines Ethos, als der auf einen zu gehenden Weg zur Erlösung Herausgeforderte.

Das in der Thora versprachlichte Ereignis der Offenbarung aber muss in seiner Weitergabe immer neu denkend zugänglich gemacht werden.

Wie dies in einem sich mit dem fundierenden ereigneten Ereignis einlassenden immer neuen Fragen geschieht, hat Rosenzweig in dem »Der Denker« überschriebenen Nachruf auf den Rabbiner Nobel deutlich gemacht. Nobel sei bei seinen Ansprachen in der Synagoge stets in einer »geistigen Anstrengung« nicht von exegetischen Fragen, sondern von einer Analyse der »Widersprüche des Lebens selbst« ausgegangen. »Es waren metaphysische kaschjes« (jiddisch: Fragen). Diese Fragen habe Nobel aber nicht in einem metaphysischen systematischen Denken beantwortet. »Systematisch denken heißt nämlich: auf die menschlichen Fragen die menschlichen Antworten finden. … sind aber im Geiste des großen Denkers den menschlichen Fragen die menschlichen Antworten gefunden, so ist der Kreislauf des Gedankens gewissermaßen an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt, — das System “geschlossen”.«63

Gerade einen solchen Kreislauf habe Nobel in seinen Predigten aber nicht vollzogen. Vielmehr habe er in der denkenden Aufmerksamkeit auf menschliche Fragen die »göttlichen Antworten«, die in der Thora auf uns zukommen, zu hören versucht. »… metaphysische kaschjes und — nun allerdings nicht metaphysische, sondern religiöse Tiruzim« (jiddisch: antworten auf schwierige Fragen). Und dies sei ihm gelungen nicht in der Einsamkeit seines Studierzimmers, sondern »erst dann, wenn er vor den vielen auf der Kanzel seines Gotteshauses stand … Denn es ist das Geheimnis dieser letzten Fragen, dass wir ihre Lösung nur dann wissen, wenn wir sie wissen müssen, wenn sie von uns verlangt wird, verlangt von denen, die ein Recht haben, sie von uns zu verlangen«.64 Im »Neuen Denken« hat Rosenzweig dies auf die Formel gebracht: »Die theologischen Probleme wollen ins Menschliche übersetzt werden und die menschlichen ins Theologische vorgetrieben«.65

Ich wage es, diesen dialogischen Vorgang, der in dem geschichtlichen Ereignis des Wunders der Offenbarung gründet, in einem vertieften Sinn philosophische Theologie zu nennen.

c) Denkende Theologie als Geschehen des Betens

Dieses responsorische Geschehen, in dem das Menschliche und das Göttliche unvermischt und ungetrennt zueinander treten, hat aber nun seinerseits nicht bloß einen präsentischen Sinn, vielmehr hat es einen Zukunftssinn. Es geschieht umwillen der Erlösung, nämlich umwillen des Reiches Gottes, »das zukünftig ist, aber zukünftig ist es immer«.66 Es will in der Faktizität der Geschichte die Geschichte des Heiles »auf den Weg bringen«.

Deshalb aber ist, und dies erscheint nun als eine dritte Gestalt einer im Ereignis gründenden theologia philosophica, eine dritte Weise des denkenden Sprechens von Gott möglich und nötig, nämlich die des Gebetes. In dieser stellt sich der Sprecher, oder vielmehr stellen sich die Sprecher, denn die volle Gestalt des Betens ist das gemeinsame Gebet, und zwar als denkende, ausdrücklich in das Sich-Ereignen von Geschichte, das sie zugleich erleiden als das, dessen woraufhin die Erlösung ist.

Rosenzweig hat deshalb das liturgische Sprechen sowohl des Judentums wie des Christentums zum Gegenstand des Nachdenkens im III. Teil des Sterns der Erlösung gemacht, den er insgesamt gleichwohl als philosophisches Werk versteht. Man könnte in Analogie dazu Heideggers »Harren auf den letzten Gott« zu lesen versuchen. Aber es ist meiner Ansicht nach sehr deutlich, dass in der Linie einer solchen philosophischen Theologie, allerdings wiederum unter Einklammerung des konkreten biblischen Offenbarungsereignisses auch Walter Benjamins und Th. W. Adornos säkularisiertes messianisches Denken liegen wie andererseits, allerdings nun wieder unter ausdrücklicher inhaltlicher Aufnahme der biblischen Offenbarung, das Denken von E. Levinas. Wenn Levinas Philosophie bestimmt als »Sagesse de l’amour au service de l’amour«67 und wenn er andererseits sein Denken in dem zwischen dem Anderen und mir sich ereignenden Dire gründet, das durch sich selbst schon Gebet ist,68 dann wird hier eine Verwirklichung der Vernunft in ihrer Praktizität (G. Prauss) sichtbar, die in einer noch einmal neuen Weise philosophische Theologie genannt werden kann.

Relazione tenuta in occasione del Convegno La teologia filosofica oggi, svoltosi nei giorni 8 e 9 novembre nell’Università di Roma Tor Vergata, con la collaborazione del Dipartimento di Filosofia, Scienze umane e Scienze dell’educazione dell’Università di Chieti.


  1. F.W. J. Schelling. Philosophie der Mythologie I, 568. Darmstadt (WBg) 1957. ↩︎

  2. Martin Heidegger in: Frithjof Rodi (Hg.), Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), 246. ↩︎

  3. Religion innerhalb der Grenzen, B 228/A 214. ↩︎

  4. Heidegger a. a. O. ↩︎

  5. Vgl. dazu den Systemaufriß, den Thomas von Aquin im Kommentar zu »De trinitate« des Boethius gibt. In: Boeth. de Trinitate Lect II, q 2, a 4. ↩︎

  6. Jes. 46, 5. ↩︎

  7. Jes. 55, 8. ↩︎

  8. Zu dem »universalen Korrelationsapriori« und dessen fundamentale Bedeutung für das Denken Husserls vgl. Hua VI, 169, Anm. 1. ↩︎

  9. Kant. Op. post. Ak. ausg. 21, 106. ↩︎

  10. Vgl. Aristoteles. Metaphysik 1, 1. — 980 a 22. ↩︎

  11. Zitiert nach Friedrich Paulsen. Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. 2. Aufl. (1896-97) II, 262. ↩︎

  12. J.G. Fichte. Über das Wesen des Gelehrten (1805). Sämtliche Werke hg. v. I.H. Fichte [8] 6, 392. ↩︎

  13. Texte zur philosophischen Propädeutik, zitiert nach HWPh 7, 718 und 720. Vgl. dazu noch bei Heinrich Rickert. Philosophie ist »universale Wissenschaft vom Weltganzen«. Das System der Philosophie I, 21 (1921). ↩︎

  14. Jubiläumsausgabe Glockner. 12, 148. ↩︎

  15. Theaet 176 a. ↩︎

  16. Gesteigert bei Plotin zur tauotés, Einerleiheit; vgl. dazu HWPh 1, 307-310. ↩︎

  17. Hegel. Glockner 2, 44-45. ↩︎

  18. Thomas von Aquin. Sth. I, q 10 a 3 ad 3. ↩︎

  19. Vgl. dazu Kant. KU Ak. ausg. 5, 174: »So weit Begriffe a priori ihre Anwendung haben, so weit … reicht die Philosophie«. ↩︎

  20. Schelling. SW I, 1 [19], 93. (Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre). ↩︎

  21. Schelling. SW I, 4, 115. »Darstellung meines Systems der Philosophie« (1801). ↩︎

  22. Prolegomena A 204. ↩︎

  23. Ak. ausg. 21, 8. Nachlaß Ak. ausg. 16, 69; vgl. KrV B 868. ↩︎

  24. Hua 5, 145. ↩︎

  25. Hua 1, 121-176. ↩︎

  26. Ms. E III, 10, S. 18, zitiert nach A. Diemer. Edmund Hussserl. Versuch einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie. Meisenheim 1956, 378 A 11. Ferner: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. v. E. Ströker. Hamburg ²1982, 8. ↩︎

  27. A. a. O. 84. ↩︎

  28. GA 60, 15. ↩︎

  29. Mitteilung der Gattin Rosenzweigs an mich. Vgl. dazu Bernhard Casper. Transzendentale Phänomenalität und ereignetes Ereignis. Der Sprung in ein hermeneutisches Denken im Leben und Werk Franz Rosenzweigs. In: Vom Rätsel des Begriffs. FS F.W. von Herrmann. Berlin (Dunker & Humblodt) 1999, 359. ↩︎

  30. GS 3, 1161. ↩︎

  31. Vgl. dazu etwa GS 2, 340 und 2, 348. ↩︎

  32. GS 3, 144. ↩︎

  33. GS 3, 151. ↩︎

  34. Um hier Kategorien des jungen Heidegger aufzugreifen. Vgl. z. B. GA 60, 248. ↩︎

  35. GS 3, 148. ↩︎

  36. GS 3, 149. ↩︎

  37. GS 2, 178. ↩︎

  38. “Intentionale Erlebnisse”. Vgl. dazu Logische Untersuchungen 6Tübingen (Niemeyer) 1986, II, 1, 343 ff. ↩︎

  39. GS 2, 178. ↩︎

  40. GS 3, 158-159. In dem Verständnis der Geschichtlichkeit ursprünglicher Wahrheit sind hier m. E. die Ursprünglichkeitskriterien anzuwenden, die Heidegger in seiner Vorlesung von 1920 ausarbeitet. Vgl. GA 59, 75. ↩︎

  41. Daß man die Grundeinsichten Rosenzweigs in das spätere Ereignisdenken Heideggers hinein weiterführen kann, liegt auf der Hand. Es kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu aber nicht nur GA 65 insgesamt, sondern z. B. auch GA 66. ↩︎

  42. Theaitetos 155 d. ↩︎

  43. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Jubliäumsausgabe Glockner 2, 14; 15; 27. ↩︎

  44. Franz Rosenzweig sieht in diesem Nicht-Ausschluß des Einzelnen durch das System einen charakteristischen Unterschied der Scholastik gegenüber dem Idealismus. »Daß Albert und Thomas zwei Personen waren, ist der charakteristische Unterschied der Hochscholastik gegenüber dem Hochidealismus. Methode und Prinzip waren noch zweierlei«. Daher gewinnt denn auch Schelling für Rosenzweig entscheidende Bedeutung: »Mit Schelling ist der Mensch in die Philosophie eingetreten und sie ist zu Ende« (GS 3, 99). ↩︎

  45. SpA 207 = EDEHH 178. ↩︎

  46. TI 230 = TU 367 f. Vgl. auch De Dieu 239 f. = Wenn Gott ins Denken einfällt, 205. ↩︎

  47. Ak. ausg. 4, 440. ↩︎

  48. KpV A 216 ff. ↩︎

  49. Vgl. dazu GS 3, 160. ↩︎

  50. In Boetii de Trinitate, Lect II q I a 4. ↩︎

  51. Sth I q 2 a 3 c. ↩︎

  52. In Boetii de Trinitate, Lect II q I a 4. ↩︎

  53. Confessiones IV, 4, 9. ↩︎

  54. Confessiones VII, 17, 23. ↩︎

  55. Reinhart Feiter (Hg.). Klaus Hemmerle. Ausgewählte Schriften. Freiburg (Herder) 1996, I, 113: »… die Grundfrage einer philosophischen Phänomenologie … mit der die philosophische Besinnung aufs Heilige … beginnt: Wie ist das Heilige zu denken, daß es dem Denken heilig sei«. ↩︎

  56. Proslogion Kap. XIV. ↩︎

  57. GA 65, 256. ↩︎

  58. Vgl. dazu das Schema GA 65, 310. ↩︎

  59. F.W. J. Schelling. Philosophie der Mythologie. Darmstadt (WBg) 1957, I, 566. ↩︎

  60. O. Pöggeler. Das Wesen der Stimmungen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1960, 281-282. ↩︎

  61. GA 9, 45-78. ↩︎

  62. GS 2, 103. ↩︎

  63. GS 3, 667. ↩︎

  64. GS 3, 668. ↩︎

  65. GS 3, 153. ↩︎

  66. GS 2, 250. ↩︎

  67. AQ 207. ↩︎

  68. EDEHH 95 = SpA 113. ↩︎